Im Kanzleramt: So ist es, Kanzler zu sein | STERN.de

2022-08-08 15:58:57 By : Ms. Vicky Zhang

Stellen Sie sich vor, Sie sind Kanzler. Eine angenehme Vorstellung? Sie könnten reisen, wo hin sie wollen, immer im gepanzerten Audi A8, einer S-Klasse oder im 7er BMW, der Sicherheit wegen - eine Dienstwagenaffäre ist ausgeschlossen. Höchstens über eine Flugaffäre könnten Sie stolpern, weil Sie den Airbus oder Hubschrauber etwas zu oft geordert haben. Doch auch das sollte kein Problem sein, schließlich verdienen Sie 24.000 Euro im Monat und können sich einen Privatflug locker leisten. Eine üppige Rente ist Ihnen sicher, auch die zweitgrößte Regierungsresidenz gleich nach dem Moskauer Kreml bekommen Sie mitgeliefert. Dazu festliche Bankette, berühmte Gäste, ein Traumjob!

Doch um all diese Annehmlichkeiten genießen zu können, müssen Sie auch arbeiten - und das eigentlich rund um die Uhr, denn Beruf und Privates lassen sich als Kanzler schwer trennen. Sie wollen einen netten Abend mit Ihrem Freund Josef Ackermann bei gutem Essen und Wein verbringen? Na gut: Aber denken Sie unbedingt daran, diese Festivität als Arbeitsessen zu verbuchen! Ansonsten gibt's reichlich zu tun. Sie müssen ganz schön früh raus aus den Federn, um spätestens um 7:00 Uhr im Kanzleramt zu sein. Wenn Sie mögen, können Sie dort im achten Stock wohnen - das spart Zeit, ist aber unbequem. Die Zimmer sind eher Kämmerchen, getrennt von einem Bankettsaal. Gerhard Schröder machte das nichts aus, Angela Merkel lässt sich dort oben nur schnell schminken. Der geplante Kanzlerbungalow im Park hinter Ihrem Amtssitz fiel leider dem Rotstift zum Opfer.

Ob nun frisch geschminkt oder nicht, ausgeschlafen oder mürrisch, von zu Hause angereist oder gerade erst aus dem Bett gefallen, Sie müssen sich beeilen: Spätestens um 8:30 Uhr findet die Morgenlage in Zimmer 7.101 statt, ein kleines Eckzimmer auf der Kanzleretage mit einem runden Tisch und Platz für etwa 10 Personen aus Ihrem engsten Beraterkreis. Um mitreden zu können, sollten Sie bereits Ihre Mappe mit den aktuellen Zeitungs-Ausschnitten und Agenturmeldungen durchgearbeitet haben, die Ihre Mitarbeiter, die sich seit 4:30 Uhr für Sie durch die Medien wühlen, für Sie zusammengestellt haben. Hier springen Ihnen schwarz auf weiß die kleinen und großen Katastrophen entgegen, über die Ihr Wahlvolk spricht: Sie haben gerade 6 Prozent Ihrer Sympathiewerte verloren, man macht sich über Ihren Verteidigungsminister lustig und verspottet Sie als Schlaftablette auf zwei Beinen? Willkommen in Ihrem Alltag, also legen Sie sich besser schnell ein dickes Fell zu!

Falls es gerade Mittwoch ist, sitzen Sie schon um 7:45 Uhr im Eckzimmerchen mit Ihren Vertrauten, um gleich im Anschluss zum Ministerfrühstück zu hetzen. Dann folgt um 9:30 Uhr die Kabinettsitzung im 6. Stock. Sollten Sie dramatische Auftritte lieben, bimmeln Sie möglichst oft mit der großen Glocke, die vor Ihnen auf dem Tisch steht. Das sichert Ihnen die ungeteilte Aufmerksamkeit Ihrer Minister. Wenn die Presse den Saal verlassen hat, müssen Sie unter den Argusaugen des Finanzministers, der Ihnen immer gegenüber sitzt, beschließen, welche Gesetze in den Bundestag eingebracht werden. Wenn alles normal läuft, sind Sie damit in zwei Stunden durch. Sie können allerdings auch versuchen, den Geschwindigkeitsrekord von Gerhard Schröder einzustellen. Der hat das Pensum in einer halben Stunde abgehakt.

Jetzt beginnt der schöne Teil des Tages, Sie dürfen reisen und Hände schütteln. Besuchen Sie mittelständische Unternehmen, das kommt immer gut, egal für welche Partei Sie Kanzler sind. Auch ein Abstecher in eine Kita bringt schöne Bilder und jede Menge selbstgebastelte Geschenke, die Ihre Mitarbeiter diskret bis in alle Ewigkeit in der Asservatenkammer verschwinden lassen. Den ein oder anderen Herzenswunsch können Sie sich auch erfüllen: So dürfen Sie bei Sportveranstaltungen den besten Tribünenplatz belegen oder den Dalai Lama treffen!

Zwischen Ihren sechs bis acht Terminen pro Tag sollten Sie sich immer mal wieder ein Stündchen frei räumen, schließlich müssen Sie regieren: Akten wälzen, Dokumente unterschreiben, Entscheidungen treffen. Ihr Arbeitsplatz bietet Ihnen nicht nur ein schönes Büro im siebten Stock ihres Hauses, Sie haben sogar eine eigene Terrasse. Vielleicht sind Sie ja der Erste, der hier ein wenig Leben in die Bude bringt und Gartenmöbel aufstellen lässt. Sie könnten sich bei der Arbeit die Sonne auf den Pelz brennen lassen und die grandiose Aussicht genießen.

Wenn Ihnen während all der anstrengenden Arbeit der Magen knurrt, stärken Sie sich in der Kantine im Erdgeschoss des Kanzleramts. Den deftigen Schweinebraten mit Kraut und Kartoffeln gibt es schon für 2,20 Euro, für die gegrillte Ente an Pflaumensoße mit Wokgemüse und Wildreis müssen Sie etwas tiefer in die Tasche greifen. Die Kanzlerzigarre danach fällt leider aus, es sei denn es macht Ihnen nichts aus, sich dafür verschämt in zugige Eckchen oder Ihr Büro zurückzuziehen - im gesamten Kanzleramt gilt ansonsten ein striktes Rauchverbot. Zum Erhalt Ihrer Fitness und zum Kalorienabbau können Sie im Gymnastikraum des Bundeskanzleramts mit Ihrer Sekretärin eine Runde Tischtennis spielen, oder Sie strampeln auf dem Hometrainer. Auch ein Mutter-Kind-Zimmer steht Ihnen im Erdgeschoss zur Verfügung, sollten Sie sich noch um ihren Nachwuchs kümmern müssen.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass in Ihrem Terminkalender bereits ein Essen ansteht. Bei einem Staatsbesuch etwa ist ein Essen im großen Bankettsaal im 5. Stock Pflicht. Dort haben Sie und Ihre Gäste nicht nur eine tolle Aussicht auf den Potsdamer Platz, Sie können auch die Renovierungsarbeiten auf dem Dach gut beobachten. Ihr Domizil hat sich in letzter Zeit als etwas undicht erwiesen, die unschönen Wasserflecken auf dem Teppich sind teilweise bis heute nicht beseitigt. Mit einer Mischung aus Neid und Wehmut blicken Sie auf zum Bahn-Tower gegenüber - so weit Sie wissen ist er regenwasserfest und mit einer weitaus spektakuläreren Aussicht ausgestattet als Ihr Kanzleramt. Warum nicht später in die Wirtschaft wechseln? Der Schröder hat's ja auch so gemacht.

Ist der Staatsbesuch zu Ende haben Sie es fast geschafft, nur Ihre Bürger müssen Sie noch informieren. Das Volk will schließlich unterhalten werden, sonst wählt es Sie vielleicht nicht wieder. Also nehmen Sie noch schnell einen Podcast auf, um Modernität und Volksnähe gleichermaßen zu demonstrieren. Gegen 23:00 Uhr dürfen Sie sich dann endlich auf Ihr Bett freuen - und hoffen, dass nicht irgendwo auf der Welt eine Katastrophe passiert. Sonst ist Ihre Nachtruhe ganz schnell vorbei.

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